Interessantes über den Umgang mit der Entwicklungsstörung Autismus

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Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die sich besonders in der sozialen Interaktion bemerkbar macht. Es gibt eine Vielzahl an verschiedenen Formen von Autismus. Da diese oft nur schwer voneinander unterschieden werden können, spricht man von der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) als Oberbegriff. Kinder mit ASS haben wie alle Kinder eigene Interessen, Vorlieben und Stärken. Auch sie können bockig sein und mit einer vertrauten Person liebkosen. Gleichzeitig haben Menschen mit Autismus einen besonderen Zugang zur Welt. Sie nehmen vieles anders wahr. Das kann folgende Wahrnehmungsbereiche betreffen: Das Sehen, das Hören, den Geruchs- und Geschmackssinn und auch den Sinn für Berührungen.

Das Sehen funktioniert wie bei allen anderen Menschen auch, nur die Verarbeitung der Sinneseindrücke kann anders sein. Das bedeutet: Kinder mit ASS sehen in vielen einzelnen Ausschnitten. Es fällt ihnen schwer den Eindruck eines Gesamtbildes zu erhalten. Manche visuellen Eindrücke werden sehr intensiv wahrgenommen, andere hingegen werden komplett ausgeblendet. In der Martinus Schule hilft ein strukturierter Arbeitsplatz bei der räumlichen Orientierung, und schafft ein Gefühl der Klarheit und Sicherheit. Zudem werden die TEACHH-Prinzipien angewendet. Klare visuelle Markierungen und Abtrennungen fördern zusätzlich die visuelle Orientierung.

Auch beim Hören kann die Verarbeitung anders sein. Das bedeutet: Kinder mit ASS können beim Hören schlechter ausblenden und hören viele Geräusche gleichzeitig. Das kann beängstigend sein.

In der Martinus Schule bieten Kopfhörer und eine Ruhe-Ecke bei Bedarf Sicherheit und einen Rückzugsort. Die Klassenzimmer sind zudem durch Teppiche, Vorhänge und entsprechende Möbel zusätzlich gedämmt, um störende Geräusche zu minimieren.

Auch bei Berührungsreizen kann die Verarbeitung der Eindrücke anders sein. Das bedeutet: Kinder mit ASS können Berührungen als unangenehm empfinden. (Zum Beispiel kann das Tragen von bestimmten Kleidungsstücken extrem unangenehm empfunden werden.) Oder sie suchen nach starken Berührungseindrücken, um ihren Körper zu spüren. Auch das Schmerzempfinden oder das Wahrnehmen von Kälte und Hitze kann anders sein.

In der Martinus Schule helfen Sandwesten und Sanddecken bei der Körperwahrnehmung. Das warme Wasser der Schmetterlingsbadewanne sorgt für ein wohliges Gefühl und fördert die Entspannung und Ruhe. Auch die Motorik und Bewegung der Kinder werden in freien Bewegungslandschaften gefördert.

Weitere Besonderheiten in der Wahrnehmungsverarbeitung betreffen den Geruchs-sowie den Geschmacksinn. Hierbei sind Kinder mit ASS oft wählerisch bei der Auswahl ihrer Speisen oder sie nehmen die Umwelt starküber ihren Geruchssinn wahr.
In der Martinus Schule wird die Wahrnehmung aktiv gefördert. Über Riechmemories und Geschmacksproben während des Kochunterrichts kann individuell auf die Geschmäcker und Vorlieben eingegangen werden.

Die Ursachen für die Entstehung von Autismus sind bisher noch nicht klar. Es gibt viele Erklärungsansätze.  Auch Auffälligkeiten in der Vernetzung von Nervenzellen wurden in der Forschung beschrieben. Derzeit werden drei neuropsychologische Erklärungsmuster bevorzugt: „Theory of Mind“, zentrale Kohärenz und exekutive Funktionen.

“Theory of Mind“ ist die Fähigkeit, sich in das Denken, das Erleben und das Fühlen von anderen Menschen hineinversetzten zu können, die Perspektive eines anderen übernehmen zu können. Dies gelingt einem Kind ungefähr ab dem vierten Lebensjahr. Die Theory of Mind ist bedeutsam, um das Verhalten eines anderen Menschen vorhersehen zu können und ihm einen Sinn geben zu können. Wer das nicht gut kann, hält an Ritualen fest und hat Schwierigkeiten im Umgang mit Unvorhergesehenem. Auch für sprachlich komplexere Interaktionssituationen ist die Theory of Mind wichtig. Ohne eine gut ausgebildete Theory of Mind fällt es uns schwer, Metaphern, Ironie und Witze zu verstehen. Um unser Gegenüber wirklich verstehen zu können, braucht es mehr als das Verständnis der Worte an sich. Forschungsergebnisse (zum Beispiel Baron-Cohen und Frith, 1985) lassen Rückschlüsse zu, dass Kinder mit einer Autismus–Spektrum-Störung Schwierigkeiten in der Ausbildung einer Theory of Mind haben.

Die zentrale Kohärenz beschreibt die Fähigkeit, verschiedene Wahrnehmungsausschnitte zu einem Gesamtbild zusammenzufügen und so die Gesamtheit der Umgebung abzubilden. Eine Störung der zentralen Kohärenz, wie sie im Zusammenhang mit ASS beschrieben wird, bedingt somit eine Wahrnehmung, die nur aus Detailausschnitten besteht. Ein Kind mit einer ASS sieht somit statt eines Gesamtbildes der Wirklichkeit jeweils nur einen kleinen Detailausschnitt. Auf diesem Hintergrund lässt sich auch erklären, weshalb Kinder mit einer ASS häufig ein stereotypes Spielverhalten zeigen. Sie erkennen einen Spielgegenstand nicht in seiner Gesamtheit mit all seinen Möglichkeiten. Ihre Wahrnehmung zeigt ihnen auch hier ebenfalls nur einen Detailausschnitt. So wird z.B. bei einem Tier zum Nachziehen nicht die Spiel-funktion des Gegenstandes im Gesamten erkannt, sondern nur die Schnur. Diese kann zum Pendeln verwenden werden. Dasselbe Erklärungsmuster kann man zum Beispiel auch für das Drehen von Rädern bei Autos zugrunde legen. Eine weitere Schwierigkeit bei einer Störung der zentralen Kohärenzbesteht im Wiedererkennen von Personen. Kindern mit einer Autismus-Spektrums-Störung fällt es oftmals schwer, Gesichter wieder zu erkennen. Sie nehmen vermutlich nur Detailausschnitte wahr und können diese nicht zu einem Gesamtbild zusammensetzten.

Die exekutiven Funktionen sind geistige Vorgänge, die es uns erlauben, zielgerichtete Handlungspläne zu entwerfen. Die Pläne können wir gedanklich in Teilschritte zergliedern. Wir wissen, was zu tun ist und handeln entsprechend — immer mit dem Ziel vor Augen.

Bei Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störung ist die Fähigkeit, ihr Handeln und Verhalten so zu steuern, dass sie ihr Ziel erreichen, eingeschränkt. Eine exekutive Funktion ist es, die Aufmerksamkeit so zu lenken, dass das Handeln auf das Handlungsziel ausgerichtet ist. Störreize können ausgeblendet werden. Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung fällt dies schwerer. Daraus ergeben sich Schwierigkeiten im Alltag:

  • Schwierigkeiten mit Situationsübergängen und Veränderungen
  • Festhalten an Ritualen
  • Unsicherheiten in der zeitlichen Orientierung
  • Eingeschränkte Planungsfähigkeit von Handlungsfolgen
  • Ablenkbarkeit

Diagnose

Grundlage der Diagnose sind Verhaltensbeobachtungen, sowie standardisierte Fragebögen (zum Beispiel CARS). Es gibt noch keine Verfahren, die anhand körperlicher Merkmale (z.B. Besonderheiten im Gehirn) eine ASS diagnostizieren können. Maßgeblich für eine Diagnose sind anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und Interaktion, eingeschränkte und wiederholende Verhaltensmuster und spezielle Interessen.